Manu Wicher
Jahrgang 1969, drei erwachsene Kinder, Studium Germanistik, Slawistik und Erziehungswissenschaften, freie Autorin, Lektorin und Dozentin, Workshops im Kreativen Schreiben und Kommunikation. Lebt mit Mann und Hund in Erfurt. Mitglied im Schriftstellerverband (VS).
Klassenstufen: 10. Klasse, 5. Klasse, 6. Klasse, 7. Klasse, 8. Klasse, 9. Klasse, Oberstufe
Themen: Adoleszenz und Pubertät, Freundschaft, Liebe
Elemente/Werkstätten: Werkstatt: Schreiben

Kontaktdaten
Anschrift: Erfurt
E-Mail: manuela.wicher@gmx.de
Web: Schreiben & Kommunikation | Manuela Wicher
Instagram: manu_wicher_autorin
Themenangebot
„Als wir schwebten“, wenn es terminlich zusammenpasst mit musikalischer Begleitung Akustikgitarre und Gesang Jo Wicher, Gespräch und Erfahrungsaustausch
Interaktive Lesung in Klasse 8, 9, 10 und Oberstufe aus „Sechzehn“, Gespräch und Erfahrungsaustausch
Schreibwerkstätten, Kreatives Schreiben, Kommunikationstrainings
Bibliographie
„Sechzehn. Das Leben ist so. Oder anders.“ | Roman | Proof Verlag Erfurt | 2023
„Als wir schwebten“ | Roman | Proof Verlag Erfurt | 2024
Leseprobe
Leseprobe aus „Sechzehn. Das Leben ist so. Oder anders“
Fiona
Zwei Stunden und vierzig Minuten. Erst eine gute Stunde rum und sie war schon mit der Vorschrift fertig. Fiona jubelte innerlich. Es war ihr Tag heute, das hatte sie schon beim Aufstehen gemerkt. Sie hatte gut geschlafen, ohne wüste Träume, ohne diesen überfüllten und überfordernden Kopf der letzten Monate. Unter der heißen Dusche sang sie laut. Fiona hatte eine schöne und klare Stimme und sie füllte das Haus mit Morgenglück. Ihre Mutter bereitete unten in der Küche das Frühstück zu. Sie machte zu Ehren der ersten Prüfung köstliche Eierpfannkuchen, hatte Obstsalat geschnippelt und Orangen gepresst. ‚Wie gut, dass es ihr besser geht‘, dachte ihre Mutter erleichtert. ‚Wie gut, dass für Kinder schnell das Leben wie gewohnt weitergeht.‘ Aber sie hatte unrecht. Der Kummer über den Tod ihres geliebten Großvaters war für Fiona immer noch allgegenwärtig, doch machte sie ihn nun auf eine andere Weise sichtbar. Fiona hatte sich in den letzten Monaten, in denen Harrys Krebserkrankung das Leben ihrer Familie komplett umkrempelte, verändert. Sie war schweigsamer geworden, nachdenklicher. Es war ja auch so, dass niemand wirklich Worte hatte. Was konnte man einem tatkräftigen, vitalen und viel jünger aussehenden Mann sagen, der innerhalb von wenigen Monaten einfach zerfiel? Als ihr Großvater die Diagnose erfuhr, Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium, bestimmte er Folgendes: kein betretenes Gemurmel an seinem Bett, keine Heimlichtuerei. Bis zu seinem letzten Atemzug wollte er selbstbestimmt und in Würde leben, mit seiner Familie um sich, alles so wie immer. Genauso. Und doch so anders.
Zu einer Chemotherapie konnten ihn die Ärzte überreden, das war‘s aber auch. Ihr Opa vertrug die Behandlung überhaupt nicht. Ihm war so schlecht, dass er weder essen noch trinken konnte und auch nicht mehr sprach. Er lag einfach in diesem Krankenhausbett, bemüht, alles zu vermeiden, was die Übelkeit noch verschlimmern könnte. Seine Haare fielen aus, er wurde dünn, fast durchsichtig, der Krebs jedoch fraß sich dick und fett. Fiona bekam schlimmste Albträume, irgendwann ging sie nicht mehr ins Bett, weil sie Angst vorm Einschlafen hatte. Denn in der Nacht, wenn sie mit sich und ihren Gedanken allein war, begriff sie es: Sie würde den Menschen verlieren, ohne den sie sich ihr Leben nicht vorstellen konnte. Ihr Großvater starb.
Ihre unsägliche Angst und der Schock über die Erkrankung änderten sich, als ihr Großvater aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Plötzlich konnte sie wieder die tiefe innere Verbindung zu ihm fühlen. Wenn sie sich unterhielten, konnte Fiona an seinen Kommentaren erkennen, dass er immer noch ein aufmerksamer und guter Zuhörer war. Auch witzelte er wie üblich viel rum und wenn sie sein tiefes Lachen hörte, war, als wäre die Krankheit ihres Opas einfach nur ein Irrtum gewesen und alles würde wieder wie immer sein. Aber es stellte sich als trügerischer Wunschtraum aus. Vergebliche Hoffnung, einstürzendes Wolkenkuckucksheim. Es war nicht zu übersehen, wie Harrys Energie zunehmend abnahm.
„Was kann ich für dich machen, Harry? Wie kann ich dir helfen?“, hatte sie ihn nachdrücklich gefragt. Die Miene ihres Großvaters hatte sich aufgehellt und er hatte gelächelt. „Allein, dass du da bist, Fine. Unsere Gespräche zeigen mir, dass ich immer noch mehr bin als eine Krankheit. Du hilfst mir, ich selbst zu bleiben.“
Im Nachhinein fand sie ihre irrationale Hoffnung, dass nun alles gut werden würde, naiv und töricht. Die Krebserkrankung ihres Großvaters war ein rasant fortschreitender Prozess. Ihre Mutter, die als Musiktherapeutin im Klinikum arbeitete, ließ sich für ein Jahr beurlauben. Ein Jahr. 12 Monate. Am Ende blieben ihnen noch zweieinhalb Monate zusammen. Gestundete Zeit.
Fionas Familie war nicht sehr groß, aber sie hielten schon immer wie eine Festung zusammen. Ihre Mutter, klein und zierlich, mit langem wippendem Pferdeschwanz und meerblauen Augen, übernahm das Kommando. Man konnte sie und Fiona für Schwestern halten. Ihr Vater hörte nie auf zu betonen, wie stolz er auf seine beiden atemberaubenden unwiderstehlichen Frauenzimmer war. Fiona lächelte. Ihr Vater war rührend lebensfremd, ein Musiker, eingesponnen in seiner eigenen Welt aus Tönen und Melodien. Mit dem Tod ihrer Großmutter und dem Einzug von Opa Harry wurde aus dem Trio ein Quartett und für Fiona schien es nie anders gewesen zu sein. Zwölf Jahre war Harry für sie Mentor, Ratgeber, Verteidiger und Anwalt. Fiona liebte ihre Eltern über alles, aber doch vertraute sie sich lieber ihrem Großvater an. Sie merkte, dass ihre Mutter immer in Unruhe schien, täglich irgendeine andere Welt retten musste und ihr Vater gedanklich oft nicht bei ihr, sondern bei seiner Musik war. Harry nahm sich Zeit für sie und auch fürs Zuhören. Wenn sie an seine Tür klopfte, wusste sie, dass er noch einmal einen tiefen Zug von seiner würzig dunkelbraunen Zigarillo ziehen und dann sein Buch weglegen würde, nicht ohne sorgsam, ja fast liebevoll ein Lesezeichen zwischen die Seiten zu legen. Er würde sich mit ihr für eine Runde Trost auf die riesige dunkelrote Ledercouch setzen, auf der Fiona wie ein Püppchen aussah. Über der ganzen Wohnung lag dieser besondere Duft, warm und würzig. Fiona gefiel die unkonventionelle Einrichtung, jedes Möbelstück schien seine eigene Geschichte zu erzählen. Ein alter riesiger Sekretär vorm Fenster, an dem ihr Großvater oft irgendetwas schrieb, silberne, etwas mondän wirkende Kerzenhalter auf dem braunen ovalen Couchtisch, auf dem sich Zeitschriften und Bücher häuften und meist ein übervoller Aschenbecher aus blauem Rauchglas stand und natürlich die bis zur Decke reichenden Bücherregale, die das gesamte Wohnzimmer zu beherrschen schienen.
Er hatte ihr oft vorgelesen. Märchen. Der süße Brei, Das kalte Herz, Hase und Igel, Sterntaler, Die sechs Schwäne, später dann Sagen und Heldenlieder. Die Argonauten, Nibelungen, Edda. Er las, bis Fiona die Augen zufielen und sie von Siegfried, dem Drachentöter und Odins Rabenvögeln träumte. Wenn sie die Augen wieder aufschlug, waren alle Kümmernisse erzählbarer, jegliches Leid teilbarer geworden. Jeder Mensch hatte seine verwundbare Stelle, jeder. Es war ein Wissen, das ihr half, mit Roxys offener Feindseligkeit ihr gegenüber umzugehen und auch mit dem ersten Liebeskummer.
„Die Menschen sind so furchtbar, Harry. Ich hasse sie.“
„Tu das nicht, Kleines, sie sind das Einzige, was zählt.“
„Aber die bescheuerte Roxy. Sie ist so absolut egoistisch. Nimmt sich, was sie will. Schläft, mit wem sie will. Tritt mit ihren schwarzen Springerstiefeln einfach alles zur Seite, was ihr nicht in den Kram passt. Mich eingeschlossen.“
„Wir haben oft eine ganz genaue Vorstellung, wie die Dinge sein sollen. Auch die Menschen. Aber glaub mir, Fine, der Ballast wird leichter, wenn du diese Vorstellungen über Bord wirfst.“ So warf Fiona als erstes die Vorstellung über Bord, dass sie und Nik jemals zusammenkommen würden.
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Wochen nachdem Harry verstorben war und sie sein Arbeitszimmer ausräumten, fanden Fiona und ihre Eltern zahlreiche Manuskripte. Märchen, die sich ihr Großvater ausgedacht und aufgeschrieben hatte, Sagen, die von ihrem Dörfchen und der Gegend hier handelten, Illustrationen, mit Bleistift gezeichnet, auch Skizzen von ihr, ihrer Mutter, Harrys verstorbener Frau. In einer Schublade fanden sie die Ablehnungsschreiben zahlreicher Verlage: ‚Können wir Ihnen leider keine Vertretung anbieten‘, müssen wir Ihnen leider mitteilen‘, passt nicht zu unserem Portfolio…‘.
Er hat nie aufgeben, hatte Fiona gedacht. Er hat geschrieben, obwohl es keiner lesen wollte und gelebt, obwohl sich die kleinen Krebstierchen zu einem riesengroßen Krebsungetüm entwickelten, rasant und unaufhaltsam, mit zerstörerischen Greifarmen und messerscharfen Scheren. „Alles ist gut“. Er hatte diesen Satz oft gesagt und es hatte sie immer beruhigt. Auch kurz bevor er starb, hatte er ihr diese Worte zugeflüstert. „Alles ist gut.“ Sein Blick lag mit solcher Zärtlichkeit und Güte auf ihr, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie hatte seine Hand gehalten, bis er einschlief, und sich dann leise aus dem Zimmer geschlichen. Es war seine Verabschiedung von Fiona. „Alles ist gut.“
Es war für Fiona eine schräge Erfahrung. Auf der einen Seite starb ihr Opa in kleinen Zeitdosen und auf der anderen Seite ging das Leben einfach weiter. Die Welt blieb nicht einfach stehen, nur weil ein geliebter Mensch erkrankte. Sie drehte sich wie gewohnt um sich selbst. Ungerührt und unbeirrt. Fiona ging zur Schule, lernte für Tests, machte Hausaufgaben. Zog sich mit den Mädchen vorm Sportunterricht in der Umkleidekabine um und lästerte danach mit Taja über Roxys Megabrüste. Fühlte sich oberflächlich und mies, weil Roxy ja nichts dafürkonnte, immerhin hatte sie sich ja nicht absichtlich ihre Oberweite angefuttert, sondern auch, weil ein spitzzackiger Neidstachel wegen Roxanas Fraulichkeit in ihrem Kopf rumorte. Fionas Brüste waren winzig, eigentlich brauchte sie nicht mal einen BH. Und doch trug sie einen, um damit eine etwas größere Oberweite vorzugaukeln, immer in Unsicherheit, wenn sie sich nackt auszog. Als Nik an einem Abend versucht hatte, ihre Brüste zu berühren, hatte sie voller Scham seine Hand weggeschoben. Sie erinnerte sich an seinen verwirrten Blick. Schnell hatte sie ihn noch heftiger geküsst und ihre Hand in seinen Hosenbund gesteckt. Anyway. Der Käse war gegessen. Aber eigenartigerweise, und vor allem blöderweise, vermisste sie ihn immer noch. Ihr fehlte ihr bester Freund aus Kindheitstagen, der sie verstand, mit dem sie klebrige Zitronenbonbons teilte und auf Bäume kletterte. Fiona schloss die Augen, damit diese Erinnerung vorüberging.
Eigentlich wollte sie damals am liebsten nur bei Opa Harry sein. Keine Zeit mit anderen Sachen verschwenden. Aber Harry schien jetzt viel zu schlafen oder zumindest zu dösen und man merkte, auch wenn er es zu verbergen versuchte, wie viel Kraft ihm die geringste Anstrengung kostete. Wenn er redete, dann so leise und schleppend, dass Fiona sich ganz nah zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen. Aber an seinen witzigen Kommentaren war zu merken, dass er, so wie immer, konzentriert zuhörte. Der verfluchte Krebs schaffte es bis zum Schluss nicht, sein Gehirn zu vernebeln.
„Tanzt du noch, Fine? Erzähl mir. Ein letztes Tänzchen, das würde ich dir schenken. Nun werde ich es bald an einem anderen Ort mit meiner lieben Frau wagen. Die wartet schon so lange.“
Wahrscheinlich hatte sie total schockiert oder so ausgesehen, denn Harry hatte schelmisch grinsend hinzugefügt: „Ein wenig wird sie sich schon noch gedulden müssen.“
An diesem Nachmittag hatte sie eine Playlist mit Harrys Lieblingslieder zusammengestellt. Harrys Augen hatten vor Freude geleuchtet. Leidenschaftlich sangen sie mit Paul Anka „My way“ und Fiona tanzte ausgelassen zu „Puttin‘ on the Ritz“.
„Versprichst du, dass du weiter tanzt? Egal wo und wie und mit wem, aber tanze.“
Immer noch etwas atemlos vom schnellen Tanzen hatte sie kichernd beide Hände gehoben. „Ich schwöre, so wahr wir Fiona und Harry sind.“
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Liederhören und zufriedenem Schweigen.
Fiona zwang sich also Harry zuliebe, wieder zweimal die Woche zum Gardetanz-Training zu gehen. Aber immer häufiger passierte es, dass sie, anstatt ins Tanzatelier abzubiegen, einfach weiterlief. Ziellos durch die Stadt trudelte und sich treiben ließ. In einem stummen Meer von Menschen. Früher konnte sie Stille nicht leiden. Ein Leben ohne Töne langweilte sie. Jetzt wünschte sie sich Stille. Wohltuendes Nichtssagenmüssen. Sich in irgendeinen Schoß vergraben und den Herzschlag des anderen spüren. Keine Worte. Sondern Berührungen. Sich an den Händen halten. Keine Erwartungen. Nur Dasein.
Sie bemühte sich, nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Immer, wenn sie jemand nach ihrem Opa fragte, wich sie aus und lenkte das Gespräch auf andere Themen. Selbst Taja konnte sie sich nicht anvertrauen. Wie auch? Irgendwie hatte doch jeder schon mal irgendwelche Omas oder Opas, Tanten oder Onkel verloren. Es war normal, dass alte Menschen sterben. Aber sie empfand einen besonderen, tiefen, einzigartigen, nicht erklärbaren Schmerz. Harry starb nicht einfach in einem Krankenhaus oder auf einer Palliativstation, er starb zu Hause. So natürlich, wie er dort gelebt hatte und doch so unnatürlich. So beängstigend, so nah. Und Harry war Harry war Harry. Verlust hatte für Fiona einen ganz neuen Sinn bekommen. Andere Dinge auch. Wie shoppen gehen, Nachmittage mit Zocken verschwenden oder Zeug auf Instagram posten. Der übliche Trott, der übliche Rhythmus – ein Trugbild. Nichtssagender überflüssiger Scheiß, in dem es um nichts ging. Um nichts. Denn in Wirklichkeit ging es nur und ausschließlich um Leben und Tod.
Tot.
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Man muss wissen, was man will, um es auch zu bekommen. Aber Fiona wusste es nicht. Sie wollte vergessen und auch wieder nicht. Es tat gut, das Leben wie gewohnt laufen zu lassen und auf der anderen Seite fühlte es sich so bescheuert falsch an. Sie wollte sich Taja öffnen, so wie früher, als sie sich noch alles erzählten und fürchtete sich vor ihrem Mitgefühl. Ihre Bindung war bedingungslos und hatte doch einen kleinen Riss bekommen. Aber Taja ließ nicht locker und das war ihre Rettung. Sie kannten sich seit dem Kindergarten, ihre Freundschaft war eine unverbrüchliche tiefe und innige Freundschaft, so tief und innig und unverbrüchlich, wie Mädchenfreundschaften nur sein konnten. Sie kannten sich wie zwei Schwestern, wussten, was der andere dachte und es gab Zeiten, da konnten sie sogar die Sätze des anderen beenden. Taja war intelligent genug, um zu sehen, was vor sich ging. Sie erkannte, dass Fiona an all dem Schmerz, den sie in ihrem Herzen verschloss, ersticken musste, es war nur eine Frage der Zeit. Taja fand, dass Fiona nach dem Tod von Harry alles Recht der Welt hatte, sich zurückzuziehen, zu weinen oder zu schreien, aber sie hatte nicht das Recht, ihre beste Freundin davon auszuschließen. So hatte sie Fiona in Chemie einen Zettel zugesteckt.
Heute, 20 Uhr, Treffpunkt Geheimplatz. Keine Ausrede geltend!!!
Treffpunkt am alten Geheimplatz, dort, wo sie sich Blutsbrüderschaft geschworen hatten und mit einem Küchenmesser so lange an ihren Handballen herumschabten, bis endlich ein paar Tropfen Blut zu sehen waren. Sie hatten ihre Hände aneinandergehalten und sich mit tiefster Überzeugung Ewige Freundschaft geschworen. Ganz gleich, was die nächsten Jahre in ihren Leben geschehen sollte, sie hielten sich an den Händen und flüsterten sich Beste Freundin zu. Fiona spürte eine Welle von heftiger Zuneigung und gleichzeitig tiefer Traurigkeit und nickte Taja zu. Dabei formte sie mit ihren Lippen ein stummes „Ich komme.“
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Sie war spät dran, wie meistens. Als sie am Treffpunkt ankam, war ihr Pullover schweißgetränkt und ihre Füße fühlten sich glitschig in ihren ausgelatschten Sneaker an. Es war ein ungewohntes Gefühl, so als würde sie nicht mehr reinpassen. Taja saß auf einer Decke auf dem Rasen. Die Luft war bereits kühl und feucht, aber Taja saß, ungerührt dieser Tatsache, in einem langen weißen Kleid da und erwartete sie. Fiona beschleunigte ihre Schritte noch mehr. Dann hielt sie inne. Sah, wie Taja sich erhob und ihr entgegenkam. Nie würde Fiona den Blick ihrer Freundin vergessen. Verblüfft, erstaunt, verwirrt. Sie sah aus, als müsste sie ein Rätsel lösen und kam nicht auf die Lösung. Fionas ozeanblaue Augen, darüber die geschwungenen Brauen, der Schmollmund und die braungelben Sommersprossen auf der Stupsnase. Fiona hatte immer wie eine Barbiepuppe ausgesehen, unschuldig und süß. Jetzt erst schien Taja die Ernsthaftigkeit, die sich dahinter verbarg, zu sehen.
„Ist das jetzt ein gutes Zeichen?“, hatte sie Fiona gefragt. Und die hatte ohne ein Zögern in der Stimme geantwortet:
„Vielleicht war das das einzig Sinnvolle, was ich bisher in meinem Leben gemacht habe.“
Dann erzählte sie von den Aufenthalten mit ihrem Großvater auf der Onkologie, der Krebsstation im Krankenhaus, den anderen Krebspatienten, Männer, Frauen, und ja, auch Jugendliche und Kinder. Den meisten waren ebenso wie Opa Harry die Haare ausgefallen. Fiona erfuhr von einem Arzt, dass man sein Haar spenden kann. Echthaarperücken. Sie hatte sich ihr langes Haar abschneiden lassen.
Schnitt.
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An diesem Abend tranken die beiden Mädchen eine Flasche Wein von Harrys Weinvorräten aus und Taja rauchte Harrys Zigarillos. Nach einem langen Schluck aus der Flasche entfuhr Taja ein kleiner Rülpser. Fiona kicherte.
„Fast wie Toni, Respekt.“
Taja reichte ihr, schon etwas betrunken, die Flasche.
„Schätze, du musst ohne ihn weiterleben, Fi. Weil Harry das von dir erwartet. Jep. Weil sie das einfach von uns erwarten. Die Toten. Und die Nichttoten. Also, die noch am Lebenden. Mann, ich kann nicht mehr klar denken. Ich glaub, Harry schickt uns ein Zeichen.“
„Auf das Zeichen“, brüllte Fiona und nahm ebenfalls einen tiefen Schluck.
Dann saßen sie einfach nur rum, tranken und irgendwann kotzte Fiona genau vor ihre eigenen Füße. Mit jedem neuen Würgen näherte sie sich der Explosionsgrenze. Und plötzlich war er weg. Dieser innere Druck, diese Pressschraube um ihr Herz.
Der Kater, den sie am nächsten Tag hatten, war grauenhaft, aber trotzdem das beste Gefühl, dass sie seit langem hatte. Und Tajas trockener Kommentar: „Bloß gut, dass ich dir nicht die Haare halten musste.“
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Wie gut es tat, an ihre Freundin zu denken. Sie liebte sie wie verrückt. Am liebsten wäre Fiona aufgesprungen und hätte sie umarmt. Ob man das dürfte in einer Prüfung? Sie lächelte und streckte sich. Aus Gewohnheit wollte sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr streichen. Oben kahl. Der weiche Flaum auf ihrem Kopf fühlte sich gut an. So wie sich vieles wieder gut anfühlte. Befreit begann sie, ihren Aufsatz ins Reine zu schreiben.