Frank Ruprecht

Geboren 1941 in Magdeburg. Lehre als Verlagsbuchhändler. Grafikstudium an der Folkwangschule in Essen. Mitarbeit in verschiedenen Werbeagenturen in Essen, Düsseldorf und Köln. Seit 1977 freier Autor und Illustrator von Kinderbüchern. Workshop- und Vortragsreisen für das Goethe-Institut in viele Länder Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und Osteuropas.

Kontaktdaten

Anschrift: 99084 Erfurt
Mobil: (0152) 24882548
Telefon: (0361) 2627900
E-Mail: frank.ruprecht16@gmail.com
Web: ruprecht-frank.de

Themenangebot

Lesungen für Kindergärten, Grundschulen und allen weiterführenden Schularten.

Der Kinderbuchillustrator und Autor zeichnet „live“ nach Vorgaben der Kinder. Die Kinder erfahren, wie ein Buch entsteht. Hierfür setzt der Autor und Illustrator Dias und weitere Materialien ein.

Ein weiteres Angebot sind Schreibwerkstätten und Malworkshops.

Schultypen: Grundschule, Regelschule, Sonderschule, Förderschule.

Bibliographie

Textbeitrag „Suse Flöckchen“ und 6 Illustrationen,  Anthologie „Wer will schon in den Süden“, Hg. FBK für Thüringen e.V., Verlag Tasten & Typen, Bad Tabarz, 2021.

„Paula in der Aula“, „Hör mal!“ und weitere Illustrationen in der Anthologie „Paula in der Aula“, Hrsg. FBK für Thüringen e.V., dorise-Verlag 2010.

„Der Liebe wegen“, edition buntehunde Regensburg, (Text Lutz Rathenow), 2009.

„Kessel, Feuer, Zauberstecken“, edition buntehunde Regensburg, (Text: Lutz Rathenow), 2009.

„Die Heiligen Drei Könige“, leiv-Kinderbuchverlag Leipzig, (Text: Gertrud Scherf), 2008.

„Wie weit weg ist Pfefferland?“, Ökotopia Verlag Münster, 2004.

„Manchmal bin ich schon groß!“, CD im Selbstverlag, 2003.

„Lies mal, wie es war – Guck mal, wie es ist“, Emons Verlag Köln, 2002.

„Manchmal bin ich schon groß!“, Maulwurf Verlag Remchingen, 1997.

„Muh“, Patmos Verlag Düsseldorf, 1996.

„Lila Lümmel und Professor Aloysius Grips“, 30 Kurzhörspiele für WDR.

„Green Goes – Green Comes Back, Grün geht – Grün kommt“, Mitautor: Pulak Biswas, Tara / Madras + Verlag an der Ruhr Mühlheim, 1996.

„Der Gelbschnabelrabenaffennasenzauber“, Thienemann Stuttgart, 1996.

„Da geht’s lang!“, Thienemann Stuttgart, 1995.

„Der Sternenkäfer“, Nord-Süd Verlag Zürich, 1994.

„Drei Räuber mit Schwein“, Texte von Frauke Nargang, Boje Verlag Erlangen 1993.

„Tag der Wunder“, Texte von Lutz Rathenow, Nord-Süd Verlag Zürich, 1992.

„Wo der Pfeffer wächst“, Thienemann Stuttgart, 1992.

„Lisa und Jan“, Texte von Frank Herrath, Beltz Verlag Weinheim, 1991.

„Komm, Bruder Bär, wir hauen ab!“, Thienemann Stuttgart, 1989.

„Weißpelz“, Thienemann Stuttgart, 1988.

„Der Schlangengarten“, Texte von Susanne Köhler, Peter Hammer Verlag Wuppertal, 1987.

„Winziger“, Thienemann Stuttgart, 1986.

„Der Ruf des Silbervogels“, Texte von Mischa Damjan, Thienemann Stuttgart, 1985.

„Und das ist die ganze Familie“, Texte von Peter Härtling, Beltz & Gelberg Weinheim.

„Jakobs Traum“, Thienemann Stuttgart, 1984.

„Die vier Könige“, Thienemann Stuttgart, 1983.

„Die Geschichte vom Friedrich, der Schnecke und anderen Tieren“, Thienemann Stuttgart, 1982.

„Der Bunte Hund“, Zeitschrift für Kinderliteratur, Beltz & Gelberg Weinheim, 1981.

Leseprobe

Leseprobe aus einem unveröffentlichten Manuskript

Ein Eis für Zwei

Jan trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Die weißhaarige Frau vor ihm an der Kasse wühlte in ihrem Portemonnaie und suchte das passende Kleingeld. Nach jeder in den Zahlteller gelegten Münze fragte sie die Kassiererin, ob es jetzt stimmen würde.
„Lassen sie mich doch mal sehen.“
Die Frau schüttete einen Haufen Münzen aus. Euro- und Centstücke fielen auf die Erde und rollten in alle Himmelsrichtungen auseinander. Die Kassiererin betrachtete ihre Fingernägel. Mit dem Daumennagel kratzte sie Lackreste ab. „Hilf der Frau doch mal!“, forderte sie Jan auf.
An der Kasse hatte sich eine lange Schlange gebildet. Das Murren der Wartenden war unüberhörbar. Jan kroch über den Boden und sammelte Münzen auf. Die alte Frau hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet und passte wie ein Geier auf, dass auch jeder Cent abgeliefert wurde.
„Ist das wirklich alles?!“, fragte sie misstrauisch, als Jan sich wieder an seinen Wagen stellte. ‚Blöde Ziege’!, dachte er und nickte mit dem Kopf.
Als die Alte endlich mit ihrer Margarine und fünfzig Gramm Salami davon schlurfte, legte Jan seine Sachen auf das Laufband.
Der Scanner piepste an die zwanzig Mal, und die Kassiererin nannte ihm den Betrag von 19 Euro 89. Er griff in die Hosentasche, dann in die andere. Auch in den Gesäßtaschen seiner Jeans wurde er nicht fündig. Hastig räumte er alle Taschen aus und legte den Inhalt auf den Tresen: Bindfaden, der Verschluss einer Sprudelflasche, Klappmesser, Einkaufszettel, Straßenbahnfahrscheine, Hausschlüssel, ein Bleistiftstummel und die Fetzen eines zerkrümelten Papiertaschentuches häuften sich vor ihm auf.
„Warum machte denn hier keiner eine zweite Kasse auf?!“ Die Mutter mit Kleinkind auf dem Arm bekam ein nervöses Augenzucken.
Die Kassiererin zippte gleichmütig den Reißverschluss ihres Kittels auf und nieder.
„Tut mir Leid!“ Jans Stimme klang heiser. „Ich hab mein Geld vergessen.“
„Stell deinen Wagen dahin!“ Sie deutete hinter eine Absperrung und brachte ihren Reißverschluss wieder in die korrekte Position.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Der Mann am Flaschenregal schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich habe meine Zeit wirklich nicht gestohlen!“ Das zustimmende Gemurmel war vielstimmig.
Jan flitzte durch die sich automatisch öffnenden Türen auf die Straße. Hektisch atmend lehnte er sich an einen Laternenmast. Der Regen prasselte schräg, aber er merkte es kaum.
Verflixt! Wo war das Geld geblieben?! Er war sicher, dass er die zwei Zwanziger eingesteckt hatte. Vierzig Euro waren eine Masse Geld! Was würde Mama sagen? Zumal sie ihn noch aufgefordert hatte, das Portemonnaie mitzunehmen…
Jan’s Hals war staubtrocken, als er die Wohnungstür aufschloss. „Wo sind denn die Sachen?“, empfing ihn seine Mutter mit einem falschen Lächeln.
„Ich… ich… ich hatte… kein Geld.“
„Wundert mich gar nicht“, grinste Mama, „das liegt noch auf dem Küchentisch! Zieh dir gleich trockene Klamotten an und dann geh halt noch mal.“
„Ich muss jetzt Hausaufgaben machen!“
„Ein Wunder ist geschehen! Mein Herr Sohn will freiwillig für die Schule arbeiten.“
„Also, wirklich, Mama!“
„Keine Ausflüchte, mein Sohn! Ich brauche die Zutaten für den Auflauf dringend!“ Sie drückte ihm das Portemonnaie in die Hand.
„Mama…“
„Was ist denn jetzt  noch?!“
„Mama, stell dir vor, das Geld wäre mir geklaut worden… dann hättest du  vierzig Euro weniger in der Haushaltskasse…
Es ist aber noch da!“ Jan sah seine Mutter triumphierend  an. „Eigentlich haben wir damit vierzig Euro zuviel… Ich fände es gerecht, wenn du damit mein Taschengeld aufstocken würdest… Einmalig!“, fügte er hastig hinzu, als Mama mit dem Zeigefinger an ihre Stirn tippte.
„Bitte, bitte, Mama! Alle in meiner Klasse machen den Karatekurs. Nur ich nicht!“
„Alle?!“ Mama zog eine Augenbraue hoch. „Du hast in zehn Monaten Geburtstag. So lange wirst du doch noch warten können!“ Sie schob ihn aus der Küche. „Beeil dich!“
Jan zog den Anorak über das klatschnasse Sweatshirt und schlich davon.

 

Kultivierte Dame gesucht

 Jan’s Einkaufswagen stand nicht mehr dort, wo er ihn hingestellt hatte. Es wäre ihm peinlich gewesen, danach zu fragen, und so machte er erneut den Rundgang durch die Regale. Gott sei Dank war der Laden fast menschenleer und die Kassiererin aus-gewechselt worden. Er kam sofort dran und hatte 17 Euro 19 zu bezahlen. Entweder tickte der Scanner nicht richtig, oder er hatte etwas vergessen. Als er die Artikel in die Tragetasche packte, verglich er sie mit seiner Einkaufsliste. Alles war vorhanden! Also musste ihn die Frau vorhin beschissen haben! >Die Menschheit ist schlecht!< Er schüttelte den Kopf.

Im Vorraum des Supermarkts, der auch als Windfang diente, blieb er vor dem Schwarzen Brett stehen. Neulich hatte er hier einen Zettel gesehen, auf dem jemand einen gebrauchten Walkman anbot. Aber da suchte nur einer eine Zweizimmerwohnung, ein anderer bot einen Handmixer für 5 Euro an. Für die sechs Bücher „Die drei Fragezeichen“, 50 Cent das Stück, fühlte er sich schon zu alt. Auch der defekte Rasenmäher, den jemand verschenken wollte, interessierte ihn nicht. Gesellschafterin gesucht, las er dann, Suche eine kultivierte Dame, die mir zwei Stunden am Tag Gesellschaft leistet und kleine Einkäufe für mich erledigt. – Putzfrau vorhanden! – Vergütung nach Vereinbarung. Darunter waren zehn Laschen eingeschnitten auf denen zehn Mal dieselbe Telefonnummer stand. Noch war keine abgerissen worden.
>Meine Chance! Jan blickte ich verstohlen um. Da er sich unbeobachtet sah, grapschte er den ganzen Zettel und stopfte ihn in die Hosentasche. Jetzt konnte ihm niemand mehr den Job wegnehmen!
Zu Hause angekommen, warf er den Beutel auf den Küchentisch. Es gab ein hässliches Geräusch. >Das Sonnenblumenöl!< „Scheiße!“
„Was hast du gesagt?“ Mama steckte ihren Kopf in die Küche.
„Ach nichts…“ Jan wieselte an ihr vorbei und schloss die Tür seines Zimmers hinter sich.
Das Handy war nicht im Schulsack. Auch nicht unter’m Bett. Hefte, Bücher, Winkeldreieck, Zirkel und Buntstifte flogen auf den Teppich, als er es auf dem Schreibtisch suchte. Auch im Bücherregal lag nichts, was einem Telefon ähnelte. Er setzte sich auf die Bettkante, überlegte, wann und wo er das letzte Mal telefoniert hatte. Verflixt! Das war’s. Letzten Montag wollte er Kalle anrufen. Aber seine Karte war leer gewesen und er hatte das Handy voller Wut in den Papierkorb geschleudert. Gut, dass Mama es aufgegeben hatte, bei ihm aufzuräumen. Er fand es unter zerknüllten Papieren und einem brettharten Butterbrot. Am Boden entdeckte er dann noch den seit langem vermissten Füllfederhalter.
Jetzt hätte er die Nummer anrufen können… wenn sein Kartenguthaben nicht NULL gewesen wäre. Ganze 74 Cents sammelte er aus allen Hosen- und Jackentaschen zusammen. Das war zu wenig!
„Jan!“ Mamas Stimme gellte durch die Wohnung. „Mach auf der Stelle die Sauerei weg!“
Er hielt es für angebracht, Mamas Bitte Folge zu leisten.
Mit Papiertüchern wischte er über den Küchenboden. Die Schmiererei wurde immer schlimmer, zumal das Öl von der Tischplatte unaufhörlich weiter auf die Fliesen tropfte.
„Ich fasse es nicht! Geh sofort eine neue Flasche kaufen.“
Jan folgerte daraus, dass Mama die weitere Reinigung übernehmen würde. „Na klar, Mama! Gibst du mir Geld? Ich hol‘ mir dann auch gleich eine Telefonkarte.“
„Das kostet ja schon wieder zehn Euro!“
„Ich brauch‘ die nicht!!!“ sagte Jan scheinheilig, „aber du meinst doch immer, ich müsste für Notfälle ein Handy haben.“
„Schon gut,“ seufzte Mama. „Bedien‘ dich!“

 

Der Anruf

 Jan zitterte vor Kälte. Das nasse Sweatshirt klebte an Bauch und Rücken. Mit klammen Fingern tippte er die Nummer ein. Der Anschluss war frei. Nach zehn-maligem Klingeln wollte er schon auf die Stoptaste drücken, als sich endlich jemand meldete:
„Hallo?“
Er sagte nichts. Der Hals war ihm wie zugeschnürt.
„Hallo! Wer ist denn da?!“
Die Stimme klang brüchig. Wie die von der alten Frau im Supermarkt. Vielleicht war sie es…
„Warum sagen sie denn nichts?“
Jan beendete die Verbindung.
„Feigling!“, beschimpfte er sich selbst, „so kommst du nie zu Geld.“ Er räusperte sich und wählte nochmals.
Der Hörer wurde sofort abgenommen.
„Hallo?“
„Hier Pfeiffer!“, wollte er sagen, aber es kam nur ein Krächzen.
„Wie bitte… ich habe nicht verstanden.“
Jan räusperte sich wieder und sagte einigermaßen deutlich: „Hier spricht Pfeiffer…“
„Jaaa?“
„Ich rufe wegen dem Zettel an. Also, ich meine… ich dachte… ich wollte ihnen Gesellschaft leisten.“
„Das ist aber schön! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass sich jemand meldet. Der Zettel hängt bestimmt schon seit vier Wochen aus. Wollen sie mir vielleicht etwas von sich erzählen?“
„Ich wollte fragen, also… wie ist das mit der… der Vergütung?“
„Meinen sie nicht, wir sollten uns erst einmal beschnuppern?“, sagte die Frau mit leisem Lachen.
Nein! Das war nicht die Ziege aus dem Laden. Die hatte missmutige Falten an den Mundwinkeln. Die hatte bestimmt in ihrem Leben noch nie gelacht.
„Ist gut! Wir werden uns beschnuppern.“ Der Satz kam ganz leicht über seine Lippen. Der Ausdruck gefiel ihm.
„Wann können wir uns denn mal treffen?“
„Eigentlich immer. Nein! Morgens nicht. Da muss ich zur Sch… da arbeite ich. Ab zwei habe ich frei.“
„Ihre Stimme klingt sehr jung… wie alt sind sie?“
Jan begann zu schwitzen. Dann fiel ihm ein Satz von Mama ein, der ihm großen Eindruck hinterlassen hatte. „Man ist so alt, wie man sich fühlt“, sagte er schnell.
„Da haben sie Recht, Frau Pfeiffer. Ich fühle mich auch noch nicht wie dreiundsiebzig.“
„Oh!“ Jan legte die Schleimplatte auf. „Ich hätte sie für viel jünger gehalten. sie klingen am Telefon so… so wie ein Mädchen.“
Wieder lachte sie. „Nun gut. Wir sollten es miteinander versuchen. Kommen sie doch mal bei mir vorbei. Zum Tee… passt es ihnen morgen gegen drei, halb vier?“
„Ja, das wird möglich sein. Ich werde alle anderen Termine absagen.“ Der Satz war gut. Jan war richtig stolz auf sich.
„Klingeln sie bitte bei Sudenburg. Elisabethstraße 7.“
Elisabethstraße 7, Sudenburg, 3 Uhr kritzelte er mit dem Bleistiftstummel auf das Papier. „Okay,  bis morgen dann. Um drei.“
„Ich freue mich, Frau Pfeiffer. Ich denke, wir werden uns gut verstehen.“ Sie hängte ein.
„Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft!“ Jan machte sich vergnügt hüpfend auf den Heimweg. Dass er nicht Frau Pfeiffer war, würde sich allerdings nicht lange geheim halten lassen.
Er hatte schon den Hausschlüssel in der Hand, als ihm das Sonnenblumenöl einfiel. „Frau Pfeiffer, Frau Pfeiffer. Wo haben sie nur ihre Gedanken?!“ Er schüttelte den Kopf.

 

Der erste Arbeitstag

Jan lief vor der Elisabethstraße 7 auf und ab. Es war erst viertel vor drei und er wollte nicht bereits am ersten Tag unpünktlich sein. Das Haus gefiel ihm. Das Vordach  wurde von zwei auf Säulen sitzenden Löwen getragen. Parterre und erste Etage waren mit gelben Ziegelsteinen verklinkert. Die darüber liegenden Stockwerke leuchteten in einem hellen Ockerton. Die ebenfalls geklinkerten Fenstereinfassungen traten durch ein warmes Orange hervor. An der dritten Etage war ein Erker, der von einem die Schwingen ausbreitenden Adler getragen wurde. Alles wirkte verspielt und hübsch, zumal die Fassade jetzt im Sonnenlicht lag.
Wie phantasielos war dagegen doch die graue Mietskaserne, in der er und Mama wohnten. Die sah aus wie ein Blatt aus seinem Rechenheft. Jedes zweite Karo war ein Fenster, jedes fünfte ein Minibalkon, gerade groß genug, um einen Wäscheständer darauf zu stellen. Mama hätte Frau Sudenburgs Haus bestimmt altmodisch genannt und gesagt, dass man da unheimlich viel Staub wischen müsste. Und Staubwischen war für sie der Horror schlechthin.
Jan guckte wieder auf die Uhr. „Verdammt!“ Zwölf Minuten nach drei. Er sprintete über die Straße, ein Auto hupte und fuhr einen Schlenker um ihn herum. In der Seitenscheibe sah er einen ausgestreckten Stinkefinger.
Auf der Klingelschildleiste standen sechs Namen. Sudenburg war von Mönckeberg und Schulze-Mairhofer eingerahmt. Er drückte den Knopf. Es verging wohl eine Minute, als es neben ihm knackte und er die Stimme von Frau Sudenburg hörte: „Wer ist da bitte?“
„Ich bin’s. Pfeiffer.“
„Kommen sie bitte in die dritte Etage.“ Es summte, und die Tür sprang auf.
Bis zum ersten Treppenabsatz nahm Jan zwei Stufen auf einmal, auf dem Weg zum zweiten ließ er keine aus, und zum dritten Stockwerk zog er sich schwerfällig am Geländer hoch. Was würde Frau Sudenburg  sagen, wenn Frau Pfeiffer keine Frau, sondern ein Junge von zwölf… naja, fast dreizehn Jahren war? War ihre Telefonstimme nur Verstellung? Verbarg sich hinter dieser freundlichen alten Dame vielleicht doch die Supermarktkuh? Sollte seine Tätigkeit etwa darin bestehen, Münzen unter Betten und Schränken hervorzufischen? Oder wollte sie ihn wie den Hänsel mästen, um ihn als Sonntagsbraten zu verspeisen?
Jan dachte, dass es doch besser gewesen wäre, Mama Bescheid zu sagen. Jetzt wusste kein Mensch, wo er war. Spätestens nach Einbruch der Dunkelheit würde Mama die Polizei anrufen. ‚Suchen sie meinen Sohn! Er ist noch nie zu spät gekommen. Es muss ihm etwas zugestoßen sein!‘ Auf die Frage des Wachtmeisters, wie der Vermisste denn bekleidet wäre, würde sie ins Stottern kommen. Sie achtete schon seit langem nicht mehr auf  Jans Klamotten. ‚Er ist fast so groß wie ich! Also, einen halben Kopf kleiner.‘ – ‚Und wie groß also genau?‘ – ‚Ja, so eins sechzig… eins fünfundsechzig. Blond ist er. Nein, eher rotbraun. Meistens verstrubbelt…‘
„Wollen sie denn nicht reinkommen?“ Die Wohnungstür hatte sich geöffnet. In der Füllung stand eine kleine, grauhaarige Frau und winkte einladend mit der Hand. „Frau Pfeiffer?“
Wie eine Hänselfresserin sah sie nicht gerade aus. Jan nahm die letzten drei Stufen und ergriff Frau Sudenburgs ausgestreckte Rechte zu Begrüßung. Sie lächelte freundlich.
Nahm sie es ihm nicht krumm, dass er keine Gesellschafterin war? War sie vielleicht schon zu vertrottelt, um den Unterschied zu bemerken? Es verunsicherte ihn, wie sie ihn ansah. Mal ging ihr Blick an ihm vorbei, dann schien sie ihn durchbohren zu wollen. Noch immer hielt sie Jans Hand. Mit ihrer linken strich sie über seinen Arm. Dabei spielten ihre Finger wie auf einem Klavier.
Er fühlte sich unwohl, dachte daran, sich loszureißen und einfach die Flucht zu ergreifen. Noch war es möglich. Frau Sudenburg wusste weder seinen richtigen Namen, noch kannte sie seine Adresse. Er konnte einfach untertauchen, so tun, als hätte er nie einen Zettel im Supermarkt gesehen. Dann aber sah er die Lachfalten um Mund und Augen…
„Kommen sie, meine Liebe!“ Frau Sudenburg zog ihn in einen dunklen Flur. Hinter ihm fiel die Wohnungstür ins Schloss. Noch immer hielt sie seine Hand. Er spürte, wie sie schweißnass wurde.
„Nehmen sie Platz!“ Die Frau deutete unbestimmt zwischen zwei Sessel. Sollte er sich auf den Boden setzen?
„Ich hole eben den Tee.“
Jan setzte sich nur halb auf das Polster. Die Hände hatte er zwischen die Knie geklemmt. Sein Oberkörper war vornüber gebeugt. Er wirkte wie ein in die Enge getriebenes Tier, das eine Fluchtmöglichkeit suchte. Im Zimmer herrschte Dämmerlicht. Die Vorhänge waren zugezogen. Nur durch einen schmalen Spalt fiel ein Sonnenstreifen in den Raum und zerschnitt den Teppich in zwei Teile.
Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bemerkte er, dass es keinen Fernseher gab. Nur eine Musikanlage. Und unheimlich viele CDs. Ohne aufzustehen konnte er eine der Hüllen herausziehen. ‚Brandenburgische Konzerte – 1 + 3‘. Das klang ziemlich öde. Und wo war ‚2‘?
Das Klappern von Geschirr näherte sich. Hastig stellte er die Hülle wieder zurück. Dabei fielen die nebenstehenden CDs um. ‚Klack-klack-klack‘.
„So, sie machen sich also bereits mit ihrer neuen Wirkungsstätte vertraut.“ Jan hörte nicht heraus, ob das eine Frage oder eine Feststellung sein sollte.
Frau Sudenburg stellte das Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich auch. Ihr Atem ging schwer. „Ab morgen können sie das übernehmen.“ Nach einer Pause fügte sie noch „Bitte!“ hinzu. Sie griff nach der Teekanne, nahm mit der freien Hand eine Tasse, legte die Tülle auf den Rand und goss ein. „Bedienen sie sich!“ Sie schob ihm die Zuckerdose und ein Sahnekännchen zu.
„Vielen Dank!“, sagte Jan und nahm vier Löffel Zucker.
„Sie lieben es süß?“
Er nickte.
„Wie bitte?“
„Ja.“, sagte Jan.
Jetzt griff auch sie nach einer Tasse. Beim Eingießen vergoss sie ein paar Tropfen der goldbraunen Flüssigkeit in ihre Untertasse. „Wie ungeschickt von mir,“ seufzte sie.
„Das kann doch mal passieren.“, tröstete er sie. „Das passiert mir oft. Und Mama sagt dann immer, ich wäre furchtbar ungeschickt.“
„Ach… sie leben mit ihrer Frau Mutter zusammen?“
„Manchmal,“ sagte Jan und fühlte, wie sein Kopf zu einer Tomate wurde. ‚Gut, dass es hier so dunkel ist,‘ dachte er. Bei Licht hätte sie bestimmt sofort gesehen, dass die Gesellschafterin ein Hochstapler war.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Frau Sudenburg: „Sie sind sehr zartfühlend. Ich bin von Geburt an blind. Ich verabscheue nichts mehr, als wenn man mich auf meine Behinderung anspricht. Ich versuche ganz normal zu leben. Naja, manchmal klappts nicht so ganz!“ Sie lachte und zeigte auf ihre Untertasse.
Jan war ein tonnenschwerer Stein von der Seele gefallen. Blind war die! Er konnte die Täuschung fortsetzen.
„Meine Mutter,“ fuhr Frau Sudenburg fort, „meine Mutter sagte auch des öfteren, ich wäre ungeschickt. Für mich war das fast wie ein Lob. Weil sie mir trotz meiner Blindheit alles zutraute.“
„Irre!“, sagte Jan. „Hätt‘ ich nie gedacht! Ich meine, dass sie nix sehen können.“
„Schwindeln sie es nicht!“ Sie hob lächelnd den Zeigefinger und lehnte sich zurück. „Als meine Mutter vor fünf Jahren plötzlich starb, war ich von heute auf morgen auf mich alleine gestellt. Die erste Zeit war sehr schwierig. Aber jetzt komme ich gut damit zurecht.“ Sie trank einen Schluck. „Und nun sind ja auch sie bei mir, Frau Pfeiffer.“ Sie betonte den Namen auf eine eigentümliche Weise. „Sie werden mich ein wenig unterhalten, mir vorlesen, Musik auflegen und alles erzählen, was so in der Welt passiert.“
„Okay!“ Jan fühlte sich auf einmal sehr wichtig. „Ich bringe morgen die Unendliche Geschichte mit. Daraus les‘ ich ihnen was vor… oder kennen sie den schon?“
„Nein! Ich freue mich darauf… Wenn sie nicht zu unendlich ist.“
„Ich hab die schon mindestens dreimal gelesen. Voll krass, die Geschichte… Soll ich ihnen denn jetzt mal eine CD auflegen?“
„Gute Idee. Welche Musik mögen sie denn?“
„Brandenburgische Konzerte, 1 + 3.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„Das trifft sich gut. Ich habe sie in einer vorzüglichen Aufnahme mit Helmut Walcha am Cembalo.“
Sie stützte ihren Kopf mit der Hand ab und schloss die Augen.
Jan fand die Musik ätzend. Er guckte verstohlen auf die Uhr. Viertel nach vier. Frühestens um fünf konnte er gehen. Noch fünfundvierzig Minuten! Hoffentlich sagte die Frau Sudenburg etwas über die Vergütung! Er wollte damit nicht anfangen. Das wäre ihm peinlich gewesen. Aber wenn die ihm nicht mindestens zwei Euro gab, hätte er keine Lust mehr, ihr Gesellschaft zu leisten. Und bei so spukhässlicher Musik wären eigentlich drei Euro angemessen. Als Schmerzzulage!
„Schenken sie uns doch bitte noch einmal nach.“ Das Plim-plim schien zu Ende zu sein. Jan leistete der Aufforderung Folge. Und dann rödelte die Musik schon wieder los. Wenigstens musste er nichts sagen. Frau Sudenburg schien gar nicht im Raum zu sein.
Das Fünfuhrschlagen der Kaminuhr fiel mit dem Ende der CD zusammen.
Sie erhob sich aus ihrem Sessel. „Ich muss jetzt ein wenig ruhen. Wir sehen uns dann morgen wieder? Ich würde mich sehr freuen. Ihre Gegenwart war sehr angenehm.“
Sie brachte ihn an die Wohnungstür. Nach der Verabschiedung fühlte Jan in der Hand ein Papier. Er sah nicht nach. Aber das mussten mindestens fünf Euro sein! Irre!
Mit klopfendem Herzen stand er im Treppenhaus. Es waren zehn Euro!
Er klopfte an die Tür.
„Haben sie etwas vergessen?“
„Nein… ja. Ich wollte ihnen sagen… ich… ich bin nicht Frau Pfeiffer. Ich heiße Jan. Ich bin ein Junge.“
„Ich weiß!“, sagte Frau Sudenburg.

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